Gäste aus dem Osten waren vor dem Mauerfall eine Seltenheit. Manche konnten aber in den Südwesten reisen. Im ersten Beitrag dieser Serie schilderte Heiner Weidner die Organisation. Im zweiten Teil begleitet Roland Luther die Gruppen bis hoch auf den Fernsehturm.
Wieder einmal hatte die DDR 30 Besucher angekündigt, aber aus dem Zug steigen Mitte Oktober 1989 nur 27 aus. Die schwäbischen Gastgeber zeigen sich gelassen: „Uns war klar, dass einige die Zugfahrt zur Flucht nutzen würden, das hat uns gar nicht mehr erschreckt“, erinnert sich Roland Luther, während er einen alten Zeitungsartikel betrachtet. Als Mitglied des Albvereins tourt er auch 1989 mit einer DDR-Delegationen durch Schwaben und übernachtet mit ihnen in einer Heilbronner Jugendherberge. Tagsüber stehen zahlreiche Ausflüge auf dem Programm.
Luther versteht schnell, dass die Vertreter der ‘Freien Deutschen Jugend’ (FDJ) keine gewöhnlichen Gäste sind. Und das liegt nicht nur an der Sprachbarriere, wenn Schwaben auf Sachsen treffen. Wer bei der Tour dabei sein will, muss sich bewerben. „Die Auserwählten waren junge Leute, die irgendetwas Besonderes gemacht hatten und zur Belohung in den Westen durften“, sagt Luther. Dass da keine einfachen Bürger reisen, war schon an der guten Kleidung erkennbar gewesen. Die Delegation hat zusätzlich ihren FDJ-Gruppenleiter dabei, einen höheren Funktionär. Trotz allem ist das Misstrauen der DDR groß. Ehepartner dürfen nie gemeinsam reisen, um die Gefahr eines Fluchtversuchs zu minimieren. „Außerdem vermute ich, dass es in jeder Gruppe jemanden gab, der die anderen bespitzelte.“
Königstrasse nur Kulisse?
Gegen Ende der 80er-Jahre bemerkt Luther, dass die Gruppen umgänglicher werden. Die Gespräche sind offener und drehen sich nicht nur um Ideologie. In Stuttgart erwartet sie ein ereignisreicher Tag bei angenehmen 17 Grad. Man zeigt den FDJlern das Daimler-Museum, die Studios des Süddeutschen Rundfunks und das Rathaus. Immer im Schlepptau: Journalisten und Fotografen. Währenddessen diskutiert die ganze Stadt über das Ergebnis der Kommunalwahl vom 22. Oktober, bei der die Republikaner mit 9,5 Prozent in den Gemeinderat einzogen. Eine gewisse Skepsis ist den FDJlern auf der Königstraße sofort anzumerken. „Die Partei hatte ihnen gesagt, dass alles Schöne nur Kulisse ist“, meint Luther, „die Schattenseiten würde man versteckt halten.“ Immer wieder gibt es Ausreißer aus dem auffälligen Tross, die in die Nebenstraßen eilen. Der Grund: Sie wollen prüfen, ob dort das gleiche Waren-Angebot existiert. Besonders beliebte Souvenirs sind Spielsachen, Kleidung, Kosmetik und alkoholische Getränke.
Kulturschock beim Italiener
„Jetzt führen die uns auch noch in eine Pizzeria!“
Ein Mitglied der FDJ beim BEsuch 1989
Das Highlight des Tages soll ein Besuch auf dem Fernsehturm werden. Weil es vormittags aber regnet, muss der Besuch zunächst ausfallen. Luther möchte den Besuchern aber unbedingt das Wahrzeichen zeigen. Als Kind hatte er in den 50er-Jahren den Bau mitverfolgt. Zum Abendessen begibt sich die Delegation deshalb erneut zum Fernsehturm und isst zuvor beim Italiener. „Jetzt führen die uns auch noch in eine Pizzeria, weil es anderswo nichts zum Essen gibt“, empört sich ein FDJler über die ungewohnte Speisekarte. Trotzdem schmeckt es. Nachdem der Regen aufgehört hat, geht es zum Fernsehturm. Kurz vor Torschluss steigen alle in den großen Aufzug. Oben öffnet sich der wolkenlose Blick auf den erleuchteten Talkessel. Die Höhe des Turms, der klare Blick über die Stadt bis zum Horizont – das bewegt alle: „Als ich mich zur Gruppe umgedreht habe, sah ich, wie einige Tränen in den Augen hatten“, beschreibt Luther diesen besonderen Moment.
Briefe Bleiben zurück
Neben der inneren Zerrissenheit ist sich Luther sicher, dass viele auch unter der öffentlichen Beobachtung leiden. „Durch den ständigen Medienrummel fühlten sich viele wie im Schaufenster ausgestellt“, erklärt er und deutet auf eine große Zeitungs-Überschrift. So hat die Stuttgarter Zeitung am 26. Oktober aufmerksam festgestellt, dass sich bereits drei Teilnehmer abgesetzt haben. Auch deshalb finden in der Heilbronner Jugendherberge jeden Abend Gespräche statt, um den Tag zu reflektieren. Nicht wenigen FDJlern wird während ihrer Woche im Südwesten klar, dass sie ihr Staat ein Leben lang rundum belogen hat. Einige nutzen die Nachtruhe zur Flucht, schließlich „ist die Jugendherberge kein Gefängnis“. Dann gibt Luther auf der örtlichen Polizeiwache routiniert eine Vermisstenmeldung auf. Das Dokument soll den FDJ-Gruppenleiter bei seiner Rückkehr entlasten.
Am 30. Oktober, dem Tag der Abreise, scheint manchen nur die zurückgelassene Familie davon abzuhalten, für immer wegzulaufen. Keiner kann damals ahnen, dass die Mauer bald Geschichte sein würde. Alle gehen davon aus, dass sie die Stadt und den Fernsehturm nie wieder sehen würden. „Die einzige Konstante in der ganzen Geschichte“, stellt Luther am Ende seiner Erzählung fest, „waren ich und Heiner Weidner.“ Von der FDJ-Gruppe im Jahr 1989 erhält er aber Briefe, die der dritte Teil dieser Serie vorstellt.
Im folgenden Audio-Beitrag berichtet Roland Luther, wie ein FDJ-Gruppenleiter eines Abends begann, an seinem Staat zu verzweifeln:
Bild: Alexis88bg, Stuttgart Tower, CC BY-SA 4.0
Musik im Audio-Beitrag: “Hip Jazz” from Bensound.com
Quelle: Stuttgarter Zeitung vom 26. Oktober 1989
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