Im letzten Beitrag führte die Diakonin Sylvia Grosser in einer Bildergalerie durch das Waldheim im Feuerbacher Tal. Ab September 1989 lebten dort 100 Übersiedler. Die Köchinnen Waltraud Schulz und Marianne Binder berichten im zweiten Teil vom Alltag dort.
Aufmerksam betrachtet Waltraud Schulz einen Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1989. Auf einem Foto sind drei Übersiedler in einem Schlafsaal zu sehen. Sie wirken fröhlich und ausgelassen, einer albert für den Fotografen auf seinem Stockbett herum. “Als dieses Foto gemacht wurde”, erinnert sich Schulz, “kamen abends noch die Hornissen.” Angesichts der Insekten bricht bei manchem Panik aus. Die Feuerwehr muss kommen, um das Nest zu entfernen. Mit Marianne Binder sitzt sie 30 Jahre später in der Caféteria eines Stuttgarter Einkaufshauses. Gemeinsam versorgten sie als Köchinnen eigentlich Waldheimkinder, dann kommen die Übersiedler.

Im Taxi Vorgefahren

Ab September rechnet man täglich mit ihrer Ankunft. Es kommt aber niemand. Währenddessen diskutiert die Landeshauptstadt über die Niederlage ihres Ministerpräsidenten: Der CDU-Parteitag wählt Lothar Späth, der als Kohl-Nachfolger gilt, überraschend aus dem Präsidium. Plötzlich ist es dann am 15. September im Waldheim soweit, obwohl sich vieles noch im Umbau befindet. Vom fehlenden Fußboden lassen sich die ersten Neuankömmlinge aber nicht abschrecken. Sie fahren gemeinsam im Taxi vor – und schleppen stolz einen Fernseher über das Gelände. “Den hatte ihnen jemand in der Stadt geschenkt,” berichtet Waltraud Schulz schmunzelnd.
Die Übersiedler erleben eine unvorstellbare Welle der Hilfsbereitschaft. “Nicht alle Spenden waren aber im besten Zustand”, sagt Schulz. Irgendwann können sie im Waldheim auch keine mehr annehmen, es fehlt schlicht der Platz. Als ziemlich klein erweist sich dagegen die Unterkunft selbst. Es gibt nur eine Dusche für 100 Menschen und im großen Schlafsaal stehen doppelstöckige Feldbetten. Aber dafür versorgen die Köchinnen die Menschen mit reichlich Essen. Und häufig fahren für sie Busse zu den Ämtern der Stadt. Vom Waldheim aus übernimmt der 2011 verstorbene Diakoniepfarrer Martin Friz die Koordination. Er ist es auch, der Marianne Binder und Waltraud Schulz bittet, die Übersiedler vor Ort zu betreuen. Denn bereits im Sommer hatten die beiden für Waldheimkinder gekocht.
Die Karte zeigt, wo Übersiedler nach ihrer Ankunft wohnten:
Brot statt Schokoriegel
Tagsüber beraten Diakoninnen wie Sylvia Grosser die Neuankömmlinge. Nur Schulz und Binder sind aber rund um die Uhr vor Ort, am Wochenende wechseln sie sich ab – und helfen bei allen Problemen. “Einmal kam ein Mädchen in die Küche und wünschte sich ein ‘Bemmchen’“, berichtet Schulz, die dem Kind darauf einen Schokoriegel anbietet. “Ich will aber ein kleines ‘Bemmchen'”, meint es nur. Erst als sie bei anderen Übersiedlern nachfragt, erfährt sie, dass ein Stück Brot gemeint ist. Ein anderes Mal sollte ein Mann einen Probetag als Dachdecker absolvieren. Schon am Mittag trifft ihn Marianne Binder aber wieder in der Unterkunft an. Das Missverständnis: “Ihm waren die Nägel ausgegangen und er dachte, dass er nun Feierabend machen könnte”, erzählt sie. So ist er es aus der DDR gewohnt.

Wir möchten keine Tierfilme, sondern lieber Krimis sehen.
Ein Übersiedler zum Fernsehprogramm
Mit ihrem Mann wohnt Waltraud Schulz in einer Wohnung auf dem Gelände. Aber selbst abends klopfen immer wieder Menschen an ihre Türe. Denn im Speisesaal befindet sich ein TV-Gerät, das über ein Kabel mit dem Fernsehanschluss ihres Hauses verbunden ist. “Das bedeutete, dass sie immer nur unser Programm anschauen konnten”, berichtet Schulz. Und die Interessen sind nicht immer gleich. “Wir möchten keine Tierfilme, sondern lieber Krimis sehen”, bringt es ein Übersiedler auf den Punkt. Andere Neuankömmlinge kämpfen dagegen immer noch mit der Vergangenheit: Eine Frau ist eines Tages überzeugt, einen Stasi-Agenten zu erkennen. “Wer sich Notizen machte oder Tagebuch führte, galt schon als verdächtig”, sagt Schulz, die sich bis heute unsicher ist, ob solche Ängste berechtigt waren.
Abschied vom Waldheim
Wie die Übersiedler den Tag des Mauerfalls erlebt haben, bleibt den beiden bis heute in Erinnerung. Plötzlich versammeln sich alle im Speisesaal und können die Nachrichten aus Berlin kaum glauben. Viele sind tief ergriffen und denken an Freunde und Familie. Als der Bundestag dann die Nationalhymne anstimmt, muss sich Marianne Binder wundern. “Auf einmal standen alle Bewohner stramm”, erzählt sie lachend, “das sehe ich heute noch vor mir.” Die meisten können vor Aufregung nicht mehr schlafen.

Mehr als ein paar Wochen verbringt keiner im Feuerbacher Tal. Als nach dem Mauerfall neue Menschen eintreffen, sind die ersten schon längst in der eigenen Wohnung. Außerdem gibt es neue Flüchtlingsunterkünfte in der Stadt. Nur Binder und Schulz bleiben und erleben, wie in kurzen Abständen Russlanddeutsche oder Balkan-Flüchtlinge nachfolgen. Als im Herbst 1991 eine Grundschule im Feuerbacher Tal einzieht, kochen sie dort weiter. Heute befindet sich in dem Gebäude das Montessori-Kinderhaus.
Zum Weiterlesen: Teil 1 mit Bildergalerie und Teil 3 mit Podcast
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