Nach dem Mauerfall zogen viele Menschen aus der DDR in den Westen. Aber auch umgekehrt waren die Grenzen nun offen. Dennoch wollen Ende 1989 nur wenige Touristen eine Reise in den Osten antreten. Reisebüros sehen die DDR aber als langfristigen Trend.
Als Michail Gorbatschow ab 1985 frischen Wind in den Ostblock brachte, machte auch die DDR Zugeständnisse. Westdeutsche erhielten Visa, die erstmals für das gesamte Land galten. Zuvor musste die Volkspolizei bei jedem Ortswechsel eine Ausnahmegenehmigung erteilen. Das hindert die DDR aber nicht, Geld daran zu verdienen: An der Grenze müssen Touristen eine bestimmte Höhe DM eins zu eins in Ost-Mark umtauschen. Zu Weihnachten 1989 kippt die DDR-Finanzministerin auch das.
Warum wollen Stuttgarter überhaupt in den Osten fahren?
- Der Eisenbahner Sigurd H. (48) kam 1947 aus Salzwedel im Regierungsbezirk Magdeburg nach Schwaben. Jetzt möchte er schauen, was nach dem Mauerfall in Ost-Berlin passiert.
- Walter S. (55) hält es für ein Wunder, dass “die sinnlose Mauer jetzt durchlässig ist” (Stuttgarter Zeitung vom 11.11.1989). Sobald sich die Lage beruhigt hat, will er einmal in die DDR reisen.
- Auch der Schüler Thomas B. (19) findet den Wandel beeindruckend. “Thomas würde sich ‘den Schuppen da drüben’ schon mal ganz gern anschauen.” (Stuttgarter Zeitung vom 11.11.1989)
Zu viele Nobelhütten
Das freut die Stuttgarter Touristik-Branche, zumal ab 1990 die Visumpflicht komplett entfällt. “In letzter Zeit kamen immer wieder einzelne Anfragen, wie es ist, wenn man in die Ostrichtung reisen möchte” (Stuttgarter Zeitung vom 11.12.1989), erzählt beispielsweise Jürgen Doerks, Geschäftsführer des Reisebüros Martinek am Olgaeck. Zielgruppe sind vor allem ältere Stuttgarter, die früher im Osten lebten. Trotzdem bleibt die Branche skeptisch, ob die DDR dem erwarteten Ansturm gewachsen ist.
So kritisiert ein Reisebüro am Rotebühlplatz, dass sich unter den wenigen freien Herbergen nur überteuerte “Nobelhütten” befinden: etwa das Grand Hotel (Berlin), das Merkur (Leipzig) oder das Bellevue (Dresden). “Bei Preisen von 200 Mark aufwärts pro Nacht seien diese Residenzen für den Normaltouristen schlicht zu teuer.” (Stuttgarter Zeitung vom 11.12.1989) Und selbst in der Messestadt Leipzig gibt es für Touristen nur vier Hotels mit Badezimmer auf den Zimmern, im Spreewald bleibt es aussichtslos.
Trotz aller Erwartungen bleiben die Touristen im Sommer aus:
30 Jahre später sind die Strände in Mecklenburg-Vorpommern meist gut besucht. Das Bundesland war 2018 das beliebteste innerdeutsche Reiseziel, stellte die 35. Deutsche Tourismusanalyse fest: “Der lange und heiße Sommer führte dort zu ausgebuchten Hotels und vollen Stränden”, sagen die Autoren. Und auch unter den zehn deutschen Städten mit den meisten Übernachtungen fanden sich 2018 mit Berlin, Dresden und Leipzig drei aus dem Osten. Damit kam der Reise-Boom dort mit Verspätung an.
Titelbild: Jürgen Sindermann/Bundesarchiv
Quellen: Stuttgarter Zeitung vom 11. November und 11. Dezember 1989