Allein 1989 zogen 62.000 Übersiedler in den Südwesten. Das beliebteste Ziel: Stuttgart vor Karlsruhe und Ludwigsburg. Besonders junge Erwachsene verlassen damals die DDR, um einen Neuanfang zu wagen. Welche Hoffnungen und Pläne haben sie für ihre Zukunft?

Jeden Morgen joggt der 18-jährige Stephan durch den Wald zum Bus. Denn obwohl er noch im Waldheim im Feuerbacher Tal lebt, hat er bereits einen Job als Schweißer ergattert. Den Feierabend verbringt mit seinen Eltern im Aufenthaltsraum der Unterkunft. Denen ist es schwerer gefallen, ihr altes Leben zurückzulassen. Umso mehr bedanken sie sich bei den Stuttgartern: “Für die Hilfe der Bevölkerung, der Behörden, der Kirchen und den Helfern hier im Waldheim.” (Stuttgarter Zeitung vom 11.11.1989) Selbst wenn die Grenzen offen bleiben sollten, wollen sie nicht in die DDR zurück.

Direkt Postkarten gekauft

Aus dem Bezirk Gera kommen die Freundinnen Grit und Marisa. Bereits nach sieben Tag findet die 19-jährige Grit einen Job als Verkäuferin in einem Spielwarengeschäft am Marktplatz. Gemeinsam mit Marisa konnte sie übergangsweise ein Zimmer im Mörike-Gymnasium beziehen. Auch Marisa freut sich, dass sie in ihrem neuen Job bei einem Anzeigenblatt gefordert wird. “Drüben die Zeit abzusitzen, das ging mir auf den Kranz” (Stuttgarter Zeitung vom 25.11.1989), sagt die 20-Jährige. Mit ihrem ersten Gehalt schicken sie Postkarten an Freunde und Familie in den Osten.

Endstation für Übersiedler

In der Calwer Passage besprechen Anne-Cathrin (links) und Sylvia ihre weiteren Pläne. Foto: Michael Steinert

Gemeinsam im Übergangswohnheim in Wangen leben Anne-Cathrin aus Weimar und Sylvia aus Dresden. Im September sind die beiden die ersten Übersiedler, die in Stuttgart eingetroffen sind. “Hoffentlich kommt da noch jemand an, ganz allein ist es nicht schön hier” (Stuttgarter Zeitung vom 15.9.1989), erzählt Sachbearbeiterin Sylvia, für die Stuttgart die ‘Endstation’ ihrer Flucht ist. Anne-Cathrin, die in der DDR in einem Museum gearbeitet hat, möchte dagegen möglichst bald zu ihrem Vater nach Bayreuth. Dort wird sie alles versuchen, um sich langsam ein neues Leben aufzubauen.

Die Übersiedler verbrachten die ersten Wochen in Stuttgart oft in Waldheimen wie hier im Feuerbacher Tal.

Nicht auf Ablehnung stoßen

Mitte Oktober reisen Dietmar und Hannelore aus Quedlinburg an. Ihre Flucht über Ungarn hatten sie als Urlaubsreise getarnt. Im Waldheim Sonnenwinkel im Dachswald planen sie nun, wie es danach weitergehen soll. “Wer einen Willen hat und eine klare Linie, der schafft es” (Stuttgarter Zeitung vom 25.11.1989), glaubt der Mechaniker Dietmar. Sein elfjähriger Sohn Christian hat seinen neuen Schulfreunden aus Stuttgart bereits das Waldheim mit den vielen Stockbetten gezeigt. Und die gelernte Laborantin Hannelore wünscht sich vor allem eines: im Westen nicht auf Ablehnung zu stoßen.

Zum Weiterlesen: Was denken Stuttgarter über den Mauerfall?

Titelbild: Wik1966total

Quellen: Stuttgarter Zeitung vom 15. September sowie vom 11. und 25. November 1989