Zufällig hörte Uwe Scholtz von einer großen Demonstration beim “Paneuropäischen Picknick” in Ungarn. Als die Grenze dort am 19. August 1989 kurz offen steht, gelingt ihm die Flucht in den Westen. In Stuttgart fährt er seitdem Busse und Bahnen durch den Kessel.

Wenn Uwe Scholtz in eine Stadtbahn einsteigt, trifft er überall in Stuttgart Bekannte. “Na, wo bist du heute eingeteilt?”, heißt es dann sofort am Bahnhof Möhringen. “Heute bin ich einmal privat unterwegs”, antwortet er an diesem Nachmittag. Seit fast 30 Jahren arbeitet Uwe Scholtz bei der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB), aktuell im Service-Dienst: “Wir helfen auf Strecken aus, bei denen gerade Personal fehlt”, berichtet der 58-Jährige, dessen Leben sich am 19. August 1989 für immer verändert hat. An diesem Sommertag entkommt er als einer der ersten Übersiedler mit einem kleinen Umweg aus der DDR.
Durch den Eisernen Vorhang
“Geboren und aufgewachsen bin ich in Dresden”, erzählt Uwe Scholtz, “und von dort aus auch geflohen.” Ursprünglich hatte er Zimmermann gelernt, bevor er sich als Lkw-Fahrer versucht. Weit gehen seine Touren aber nicht, höchstens in das knapp 20 Kilometer entfernte Meißen. Seine Ehe zerbricht, als ihn die Nationale Volksarmee (NVA) 1986 einzieht. Damals fasst er den Entschluss, in den Westen zu gehen, und stellt Ausreiseanträge – die das Regime stets ablehnt. “Eines Tages habe ich dann von Freunden gehört, dass es die Chance gibt, über Ungarn nach Österreich zu fliehen”, berichtet er.
Im Trabi fährt Uwe Scholtz mit seiner damaligen Freundin und deren Tochter zunächst nach Budapest. Dort fällt ihm zufällig ein Flugzettel in die Hand, der ein “Paneuropäisches Picknick” (siehe Infokasten) an der West-Grenze ankündigt. “Es hieß, dass man sich ein Stück aus dem Eisernen Vorhang herausschneiden und mitnehmen sollte”, erinnert sich Uwe Scholtz. Doch dabei soll es an diesem 19. August nicht bleiben: Tatsächlich kann er am Nachmittag mit knapp 700 DDR-Bürgern die Grenze überqueren. Für drei Stunden öffnet die ungarische Regierung ein kleines Tor in Sopron.
Die grenzenlose Freude am 19. August 1989 zeigt dieser Beitrag:
Spitzname ‘Sparwasser’
“Drehen Sie sich nicht um, gehen Sie einfach weiter”, fordern die Grenzwärter die begeisterten Menschen auf, bis alle im österreichischen St. Margarethen sind. Als Sammelpunkt dient eine Gaststätte, von der aus Uwe Scholtz erleichtert seinen in Stuttgart lebenden Stiefbruder anruft. “Er war in der DDR ein politischer Häftling, den die Bundesrepublik 1984 freigekauft hatte.” Von der Deutschen Botschaft in Wien erhält Uwe Scholtz dann ein Bahnticket zu seinem Stiefbruder. Die ersten Wochen kann er bei ihm verbringen, während er Ämter besucht und bei einer Cannstatter Baufirma jobbt.
Über diesen Umweg kommt Uwe Scholtz aus Dresden nach Stuttgart:
Nach wenigen Wochen kann er eine Ausbildung zum Busfahrer bei der SSB anfangen – und fühlt sich im Westen angekommen. Auch zu den schwäbischen Kollegen findet er schnell Kontakt: “Beim Fußballspielen im Betriebssport haben sie mich scherzhaft ‘Sparwasser‘ genannt”, sagt Uwe Scholtz, der in ein Wohnheim der SSB einzieht. Als die Mauer wenige Wochen später fällt, bleibt ihm nur wenig Zeit, die Ereignisse in seiner Heimat zu verfolgen. Stattdessen büffelt Uwe Scholtz schon in der Fahrschule. “Es ist immer besser, sich auf die Gegenwart und Zukunft zu fokussieren.”
